Digitalisierung: Smarte Prozesse für die Energiewirtschaft

Die zunehmende Komplexität des Energiesystems verlangt dessen Digitalisierung. Daran arbeitet das Fraunhofer IEE – unter anderem mit KIgestützten Systemen für Prognosen und automatisierten Entscheidungen. Netzbetreiber können damit zum Beispiel drohende Engpässe erkennen, Windpark-Betreiber die Vermarktung ihres Stroms optimieren.

Die alte fossile Energiewelt war recht übersichtlich: Den Strom lieferten vor allem Großkraftwerke, genau abgestimmt auf den Bedarf. An ihre Stelle treten mit der Energiewende nun unzählige kleine, dezentrale Erzeugungsanlagen, deren Ertrag sich in der Regel allein nach dem Wetter richtet. Das macht die Arbeit der Netzbetreiber, Versorger und anderer Akteure deutlich komplexer. Auf Seiten der Nachfrage entstehen allerlei Herausforderungen.So lassen etwa Wärmepumpen, Elektroautos und Elektrolyseure den Strombedarf steigen. Zugleich bieten diese Verbraucher aber die Chance, das Energiesystem flexibler zu gestalten. Das schafft neue Möglichkeiten für die Steuerung des Systems.

„Die stark zunehmende Komplexität können wir nur mit einer umfassenden, alle Prozesse durchdringenden Digitalisierung des Energiesystems in den Griff bekommen“, erklärt Dr. Reinhard Mackensen, Institutsleiter des Fraunhofer IEE sowie Leiter des Forschungsbereichs Energiewirtschaftliche Prozessintegration des Instituts. Das bedeutet zum einen: detaillierte Daten zu erheben, beispielsweise aus Verteilnetzen oder der Wärmeversorgung, diese aufzubereiten, mit anderen Daten, etwa aus der Meteorologie, zu verbinden – und zum anderen, daraus mit Prognose- und anderen Verfahren Informationen zu gewinnen, mit dem sich der enorme Steuer- und Regelaufwand in der neuen dezentralen Energiewelt beherrschen lässt.

So anspruchsvoll diese Aufgabe auch ist: Sie bietet der Energiewirtschaft große Chancen, nicht nur mit Blick auf die Optimierung ihrer Prozesse. „Die Digitalisierung ermöglicht völlig neue Geschäftsmodelle, sie erweitert die Wertschöpfung und schafft Flexibilitäten. Und zugleich gibt sie Schlüsselakteuren wie den Netzbetreibern neue Instrumente in die Hand, die Resilienz des Systems zu stärken“, sagt Mackensen.

Podiumsdiskussion "Digitalisierung Smarte Prozesse für die Energiewirtschaft"

Digitalisierung als Querschnittsaufgabe

Rund 100 Digitalisierungsexpert:innen, verteilt über alle Abteilungen, sind beim Fraunhofer IEE damit beschäftigt, Unternehmen und auch die Politik bei all diesen Herausforderungen zu unterstützen. Zusammen mit Industriepartnern entwickeln die Fraunhofer-Fachleute vielfältige, marktreife Produkte; die dafür nötige Vorentwicklung erfolgt in öffentlich geförderten Projekten.

„So wie die Digitalisierung alle Handlungsfelder von der Erzeugung über die Sektorenkopplung bis zum Verbrauch durchdringt, so ist sie auch beim Fraunhofer IEE Querschnittsthema“, betont Mackensen. Dabei beschränken sich die Fraunhofer-Expert:innen aber nicht auf die informationstechnologische Seite. „Die Aufgaben der Digitalisierung sind sehr vielschichtig, sie haben immer auch eine wirtschaftliche und eine regulatorische Dimension. Dank der Breite der Kompetenzen im Institut können wir auch diese Aspekte integrieren“, sagt Manuel Wickert, Leiter des Forschungsschwerpunkts Energieinformatik beim Fraunhofer IEE.

Stets mit im Fokus dabei: der Schutz entwickelter Systeme und Produkte vor möglichen Hacker- und anderen Angriffen. „Sicherheitsfragen nehmen wir enorm wichtig. Das spiegelt sich auch in der Zertifizierung des Fraunhofer IEE nach ISO 27001“, unterstreicht Institutsleiter Mackensen.

 

KI-basierte Prognosen für Netzbetrieb und Vermarktung

Ein Schwerpunkt des Fraunhofer IEE bei der Digitalisierung liegt auf der Entwicklung und dem Einsatz von KI-basierten Prognoseinstrumenten. „Um das Energiesystem vorausschauend steuern zu können, müssen Netzbetreiber und andere Akteure wissen, wie sich die Komponenten des Systems, die Erzeuger wie die Verbraucher, verhalten werden, in einer Viertelstunde, am nächsten Tag oder auch später. Dafür liefern wir die Lösungen“, erklärt Dr. Jan Dobschinski, Leiter des Forschungsschwerpunkts Energiemeteorologie und Geoinformationssysteme beim Fraunhofer IEE.

Beispiel Windenergie: Die Fraunhofer-Forscher: innen haben Prognose-Systeme entwickelt, die mithilfe von KI-Verfahren wie dem maschinellen Lernen anhand von Wettervorhersagen ermitteln, wie viel Strom einzelne Windparks erzeugen und an bestimmten Netzknoten einspeisen werden. Die eingesetzten Modelle wurden zuvor mit historischen Wetter- und Ertragsdaten trainiert. Dobschinski nennt beispielhaft zwei Anwendungsmöglichkeiten: „Netzbetreiber können so drohende Netzengpässe erkennen, Windpark- Betreiber die Vermarktung ihres Stroms optimieren.“

In manchen Bereichen fehlt es allerdings an geeigneten Daten, mit denen sich Prognosen erstellen lassen – entweder weil sie nicht erhoben bzw. langfristig gespeichert werden oder weil der Datenschutz deren Nutzung einschränkt. In solchen Fällen arbeitet das Fraunhofer IEE mit physikalischen Modellen oder speziellen KI-Verfahren wie dem Transfer- Learning „Hier geht es zum Beispiel darum vorherzusagen, wie Solarspeicher oder Wärmepumpen in einem Quartier in den nächsten Stunden eingesetzt werden, wie groß der Wärmebedarf sein wird oder wie viele Elektroautos wann mit welcher Leistung geladen werden. Das ist Voraussetzung, deren Flexibilitäten für die Stabilisierung der Stromnetze nutzbar zu machen“, erläutert Dobschinski.

Automatisiert Entscheidungen treffen

Ein weiteres zentrales Aufgabenfeld des Fraunhofer IEE ist der Einsatz von KI zur Entscheidungsunterstützung. „Wir entwickeln unter anderem so genannte Agenten, die KI-gestützt automatisierte Entscheidungen treffen“, erklärt Wickert. Diese Agenten helfen zum Beispiel Betreibern virtueller Kraftwerke und anderen Aggregatoren im Energiehandel, indem sie auf Basis von Handelsdaten und Preisinformationen selbsttätig für die optimale Vermarktung des Stroms an den einzelnen Märkten, etwa an dem für Regelenergie oder am Spotmarkt, sorgen. „Da mit der zunehmend fluktuierenden Erzeugung der Kurzfristhandel immer wichtiger wird, gewinnt die Automatisierung von Entscheidungen hier stark an Bedeutung“, so Wickert. Das System des Fraunhofer IEE ist längst etabliert in der Energiewirtschaft. So vermarktet einer der Anwender, ein Betreiber virtueller Kraftwerke, damit ein Portfolio mit einer Leistung von mehr als vier Gigawatt.

Auch beim Netzbetrieb leisten die Systeme des Fraunhofer IEE für die KI-basierte Entscheidungsunterstützung wertvolle Dienste. Mit der Zunahme der fluktuierenden Einspeisung aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen sowie der wachsenden Zahl neuer Verbraucher wie Wärmepumpen und Wallboxen müssen die Netzbetreiber künftig weit häufiger in die Verteilnetze eingreifen als es bislang der Fall war. Dabei unterstützen Produkte des Fraunhofer IEE: Sie liefern beispielsweise Vorlagen für mögliche Handlungen, mit denen die Leitwarten der Netzbetreiber kritische Situationen schnell und zuverlässig in den Griff bekommen können. Ebenso machen sie es möglich, dass sich Verteilnetze selbst „heilen“ – kommt es in einer Leitung oder an einem Netzverknüpfungspunkt zu einem Ausfall, leitet das System die Stromflüsse automatisch so um, dass die Funktionsfähigkeit des Netzes gewährleistet bleibt.

Darüber hinaus entwickeln die Fraunhofer-Forscher: innen IT-Lösungen, mit denen Aggregatoren dezentrale Anlagen so steuern können, dass deren Flexibilitäten maximal wirtschaftlich eingesetzt werden. Zum Beispiel Batteriespeicher: Ein vom Fraunhofer IEE entwickeltes System erstellt auf Basis von Preis- und Lastinformationen sowie der Ladezustände Fahrpläne, die den optimalen Betrieb der Speicher ermöglichen.

Digitalisierung beschleunigt Erneuerbaren-Ausbau

Ebenso wirkt das Institut mit seiner KI-, Prognose- und Analysekompetenz daran mit, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. So ermitteln die Expert:innen zum Beispiel im Auftrag von Bund, Ländern und Kommunen anhand von GIS-Daten, auf welchen Flächen wie viele Windenergieanlagen mit welcher Leistung installiert werden können – unter Berücksichtigung etwa von Abstandsregeln, dem Naturschutz oder von Einschränkungen durch den Flugverkehr.

Auch trägt das Fraunhofer IEE dazu bei, die Planungsprozesse bei der Windenergie zu verkürzen. Die Wissenschaftler haben zum Beispiel ein Verfahren entwickeln, das den Zeitaufwand für das Erstellen von Windertragsgutachten deutlich reduziert: Statt wie üblich die Windgeschwindigkeiten über alle Jahreszeiten hinweg zu messen, erlaubt es die Lösung, sich dabei auf kürzere Zeiträume zu beschränken. Die Lücken werden mit Daten anderer Standorte geschlossen. Eine KI sorgt für deren Anpassung an die spezifischen Bedingungen vor Ort.

 

Energy Data Spaces: Daten austauschen, Souveränität behalten

Ein großes Hemmnis bei der Digitalisierung des Energiesystems ist, dass es Unternehmen bislang an Möglichkeiten fehlt, Daten auszutauschen, ohne die Hoheit darüber abzugeben. Das Fraunhofer IEE hat deshalb zusammen mit Partnern Datenräume geschaffen, die hier Abhilfe schaffen sollen: Die sogenannten Energy Data Spaces erlauben es, Daten zu teilen, zugleich aber die Souveränität über sie zu behalten.

Welchen Nutzen hat das in der Praxis? Die einzelnen Netzbetreiber können beispielsweise in einem solchen Datenraum ihre Statistiken zu selten auftretenden Fehlern einer KI zur Verfügung stellen, so dass diese aus den gesammelten Daten ein Modell mit hoher Genauigkeit entwickeln kann. Davon profitieren alle Beteiligten, etwa bei der vorausschauenden Wartung („Predictive Maintenance“), ohne ihre Daten aus der Hand geben zu müssen. Ein weiteres Beispiel: Windparkbetreiber können über die Datenräume den Netzbetreibern für deren Sicherheitsberechnungen Zugriff auf detaillierte Erzeugungsdaten einräumen.

„Energy Data Spaces ermöglichen nicht nur eine engere Zusammenarbeit von Unternehmen, sondern stärken auch deren Resilienz“, sagt Wickert. „Denn sie machen es möglich, unternehmensübergreifend KI zu nutzen, ohne sich dafür von einem der großen kommerziellen Cloud-Anbieter aus den USA abhängig machen zu müssen.“

 

Unsere Forschungsschwerpunkte zu diesem Leitthema

 

Forschungsschwerpunkt

Energieinformatik

 

Forschungsschwerpunkt

Energiemeteorologie und Geoinformations-
systeme

 

Thermische Energietechnik