Kasseler Forscher entwickeln Test- und Simulationswerkzeug für zukünftige Stromnetze – Netzausbaubedarf könnte verringert werden
Die Energiewende kann nur mit einem intelligenten Stromversorgungsnetz gelingen, das die Qualität der Stromversorgung auch bei hohen Anteilen von erneuerbaren Energien sichert. Auf dem Weg zu diesem sogenannten Smart Grid wollen Kasseler Wissenschaftler einen Meilenstein setzen: Forscher der Universität Kassel und des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) entwickeln in Zusammenarbeit mit einem Industriearbeitskreis im Projekt »OpSim« ein Test- und Simulationswerkzeug für die integrierte Steuerung, Betriebsführung und das Energiemanagement der Übertragungs- und Verteilnetze.
Das Projekt ist bis Januar 2016 angelegt und wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit mit ca. 2,5 Millionen Euro gefördert. OpSim soll Netzbetreiber in die Lage versetzen, unter realen Bedingungen intelligente Steuer- und Regelungsmechanismen und ihre Wechselwirkung im Stromübertragungs- und -verteilnetz in Echtzeit zu testen. Ein solches integriertes Betriebsführungssystem könnte den Umfang des Netzausbaus verringern und so helfen Milliarden Euro einzusparen.
Der Ausbau von Photovoltaik, Windkraft, Biogas und weiteren regenerativen Energieträgern schafft Probleme in den heutigen Stromnetzen. Weil der Wind unstetig bläst, die Sonne nicht immer scheint und ständig neue Anlagen zugebaut werden, kommt es zu unerwünschten Schwankungen der Energieversorgung. Um Spannung und Frequenz des elektrischen Stroms in tolerablen Grenzen zu halten und damit die Qualität der Stromversorgung zu sichern, müssen die Betreiber der großen Übertragungsnetze immer häufiger intervenieren. »Haben die Übertragungsnetzbetreiber vor zehn Jahren noch wenige Male pro Jahr eingegriffen, so müssen sie es heute schon über tausend Mal tun. Und es wird noch häufiger werden«, sagt Professor Dr.-Ing. Martin Braun. Er ist Leiter des Fachgebiets Energiemanagement und Betrieb elektrischer Netze (e²n) an der Universität Kassel und der Abteilung Betrieb Verteilungsnetze im Fraunhofer IWES. Es komme schon jetzt regelmäßig zu Rückflüssen elektrischen Stroms von niedrigen Netzebenen in Höhere, was zu einer unerwünschten Erhöhung der Spannung und so zu einer neuen Herausforderung des Netzbetriebs führe, fügt Dr. Frank Marten hinzu, OpSim-Projektleiter am Fraunhofer IWES.
Braun und Marten werden in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe mit zehn weiteren Wissenschaftlern eine Simulationsumgebung entwickeln, die alle Ebenen der Stromversorgung umfasst, also die Stromübertragungsnetze (Höchstspannungsnetz) ebenso wie die Verteilnetze (Hochspannungs-, Mittelspannungs- und Niederspannungsnetze). Neuartig ist dabei, dass diverse Akteure (Netzbetriebsführungen, virtuelle Kraftwerke) ebenfalls in dieser Umgebung nachgebildet werden und somit auch ihr gebündelter, wechselwirkender Einfluss auf das Energiesystem berücksichtigt werden kann. Das System soll auf den Zubau weiterer Energieerzeugungsanlagen flexibel reagieren und auch beim Ausfall der elektronischen Kommunikation zwischen Steuereinheiten noch robust bleiben. »Der Übertragungsnetzbetreiber hat die Systemverantwortung für das gesamte Netz. Doch er weiß nicht, was auf den unteren Netzebenen gerade passiert«, beschreibt Prof. Braun eines der Hauptprobleme. Denn Photovoltaik-, Biogas-, Wasser- und Windkraftwerke speisen vor allem in die Verteilnetze ein und sorgen dort oft für ein Überangebot oder aber einen Mangel an elektrischer Energie. Eine Möglichkeit sei, diese Akteure einer immer dezentraler werdenden Energieversorgungslandschaft und Stromspeicher zu virtuellen Kraftwerken zusammenzufassen sowie Marktmechanismen einzuführen, die Angebot und Nachfrage nach elektrischer Energie besser ins Gleichgewicht bringen, sagt Dr. Marten.
Professor Braun bringt in das Projekt seine Expertise bei der Gestaltung der Betriebsführungen und ihrer Schnittstellen in elektrischen Netzen und bei der Integration von erneuerbaren Energien in Verteilnetze ein. Das Fraunhofer IWES hat in einer Reihe von Projekten Erfahrung mit lokalen und zentralen Betriebsführungen, mit Netzsimulationen, mit regelbaren Photovoltaik-Umrichtern, dem Management von Windpark-Clustern und mit virtuellen Kraftwerken gesammelt.
Die Projektgruppe wird außerdem Modelle von Steuerkomponenten, die heute Stand der Technik sind, in ihr Simulationswerkzeug einbauen. Das sind beispielweise regelbare Umspanntransformatoren oder die Steuergeräte von Photovoltaikanlagen, die sogenannte Blindleistung zur Verfügung stellen, wenn das lokale Stromnetz überlastet ist. »Unbekannt ist, wie die verschiedenen Regler miteinander optimal zusammenspielen«, erklärt Professor Braun. In den mehrere Millionen zählenden Knoten – Stellen, an denen Stromleitungen verzweigen – der Nieder- und Mittelspannungsnetze wissen die Netzbetreiber nicht, was im Detail vor sich geht, sagt der Wissenschaftler. Man werde auch testen, ob der direkte Eingriff des Netzbetreibers in die Regler lokaler Anlagen das Gesamtnetz stabilisieren könne.
Die Industrie sei auf dem Hintergrund der stark steigenden Kosten im Zuge der Energiewende sehr an neuen Lösungen für Betriebsführung und Energiemanagement der Netze interessiert. »Wir werden den Unternehmen mit dem Simulationswerkzeug die Chance bieten, die für sie technisch besten und wirtschaftlich optimalen Lösungen zu finden«, sagt Professor Braun. Daraus könnte ein Markt für zukünftige Systemdienstleistungen wachsen. Die realitätsnahe Untersuchung solcher Konzepte ist ein wichtiger Anwendungsfall des Projekts.
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